Pilates – von wegen nur reiner „Frauensport“

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IBS Publishing Team

Sexismus im Sport ist immer noch ein großes Thema, zumal es Jahrtausende lang als reine Männersache galt. Und dann gibt es Sportarten, die eher als „Frauenkram“ gelten, aber zum Teil so anstrengend sind, dass harte Kerle dabei schlapp machen. Dazu gehören Aerobic und Pole Dancing, aber auch Pilates, um das es hier gehen soll, als Ganzkörpertraining von einem Deutschen vor 110 Jahren ursprünglich für männliche Kriegsgefangene entwickelt.

 

Wer sich im Schwimmbad darüber ärgert, dass ganze Bahnen mit Wassergymnastik belegt sind, sollte mal mitmachen und wird feststellen, dass dieses vermeintliche „Tantenwaten“ nichts für Weicheier ist. Gleiches trifft wie gesagt auch auf andere Sportarten und Übungen zu, die Männer gerne als reinen Frauenkram abtun. Bauch-Beine-Po zum Beispiel hat so manchen Vertreter des angeblich starken Geschlechts schon so überanstrengt, dass er sich seinen erwünschten Waschbrettbauch lieber doch an den Geräten antrainiert. Der Lohn ist dann doch meist nur etwas weniger „Waschbärbauch“.

 

Und überall, wo Gelenkigkeit gefragt ist, sind Frauen den Männern meist überlegen. Die große US-Schauspielerin Jane Fonda hat als Aerobic- und Yoga-Protagonistin in den 1970er Jahren vielleicht unbewusst dazu beigetragen, dieses Image zu verstärken. Doch ganz gelungen ist es nicht, denn die Yoga-Meister sind in Indien und in den Bollywood-Filmen als Yogī immer noch vielfach weise, weißbärtige alte Männer, während die Yoginī als weibliches Gegenstück entweder gar nicht in Erscheinung tritt oder wenn dann eher als Zauberin oder gar als böse Hexe.

 

Auch im hohen Alter kann man noch damit anfangen

 

Wie dem auch sei. Mit der Sorge, so wie einst bei Yoga an der eigenen Ungelenkigkeit zu scheitern, ging der Autor mit einem etwas mulmigen Gefühl in seine erste Pilates-Stunde, zumal alle Frauen ringsum schon gesagt hatten, wie anstrengend das ist. Aber so schlimm kann es ja nicht sein, wenn selbst 80- oder 100-Jährige sich damit fit halten oder es zumindest versuchen. Die Pilates-Trainerin Lola sieht aus wie eine Ballerina und hat nach Jahrzehnten Judo und Ausdruckstanz ihre Ausbildung in den 1990er Jahren in San Francisco gemacht. Später führte sie ihre Karriere nach Paris, wo sie unter anderem Cathérine Deneuve und die britische Pop-Ikone Marianne Faithfull sowie als erste Pilates-Lehrerin überhaupt im berühmten Hôtel Ritz unterrichtete.

 

Schaut man sich die nachfolgenden Kursteilnehmer:innen an, scheint sich zu bestätigen, dass Pilates als Frauensport oder Frauenfitness gilt, was der Herabwürdigung die Krone aufsetzt. Erfunden hat es aber der Deutsche Joseph Hubertus Pilates (1883-1967), der 1912 oder 1913 als Brauereigehilfe nach England kam, wo er zu Beginn des Ersten Weltkriegs wie andere Deutsche in ein Internierungslager gesteckt wurde, wo er das Konzept eines ganzheitlichen Körpertrainings entwickelte und anderen Internierten beibrachte.

 

1926 wanderte er in die USA aus und lernte auf der Schiffsreise seine Lebenspartnerin Clara kennen, mit der er im Gebäude des New York City Ballet ein Pilates-Studio eröffnete, das in den 1960er Jahren vor allem Tänzerinnen anzog. Und das erklärt auch die überwiegend weibliche Konnotation, obwohl Pilates den nach ihm benannten Sport ja ursprünglich für internierte Soldaten entwickelt hat.

 

Jetzt ist die berechtigte Frage: Kann man sich nach ein, zwei Stunden schon ein Bild von Pilates machen und sich anmaßen, darüber zu schreiben? Ja, man kann oder man kann es zumindest versuchen. Denn Lola hat sich zwar erst über mögliche körperliche Beschwerden erkundigt, dann aber gleich die kleinen Hanteln ausgeteilt, die mit 1 kg für sie, die mit 3 kg für ihn, um mit den ersten Übungen zu beginnen.

 

Dabei ging es unter anderem darum, die Gewichte einzusetzen, um im Straußenstand oder in der Standwaage, einbeinig, mit dem anderen nach hinten, die Arme mit den Gewichten seitwärts, den Rücken gestreckt in die richtige Balance zu kommen, wobei auch die Atmung ganz entscheidend ist. Dieses Koordinationsvermögen, das sagen auch viele Fitness-Coaches, ist ganz entscheidend für Körper und Geist und hält demnach auch jung. Wer im Wald einen umgestürzten Baum oder ein absichtlich aufgestellten Holm sieht, sollte mal versuchen darauf zu balancieren. Alternativ tut es auch ein Strich. Im Alter lässt das leider meist nach und sind viele Menschen dann auch nicht mehr in der Lage so wie in der Jugend, freihändig Fahrrad zu fahren. Dann muss man auch nicht, aber etwas Balance zu üben kann nie schaden.

 

Auf die richtige Koordination und Atmung kommt es an

 

Koordination hilft auch der Stärkung der Konzentration und der Zentrierung, neben der Atmung, Präzision, Kontrolle, und dem richtigen Fluss zwei der ganz zentralen Prinzipien des Pilates. Dieses ist als Ganzkörpertraining darauf angelegt, die Muskulatur, primär die Beckenboden-, Bauch- und Rückenmuskulatur zu stärken. Erfahrene Teilnehmer:innen bringen meist ihre dafür nötige eigene Matte mit. Zu den speziell entwickelten Geräten gehört eine Rolle, die wie eine langgezogene Faszienrolle oder Black Roll aussieht und in der zweiten Stunde bei Lola zum Einsatz kam.

 

Die Übung fing damit an, sich mit geradem Rücken vorn auf die Rolle zu setzen und sich dann über das Steißbein, die Lenden- und die Brustwirbel auf der Rolle abzurollen, wobei die Bauchmuskeln schon kräftig mitarbeiten müssen. Um die Halswirbel zu entlasten, sollte man nur mit den Fingern den Kopf leicht aufrecht halten und das eine Bein angewinkelt, das andere gestreckt das Becken anheben und mit der Hand am Kopf gleichzeitig die die entgegengesetzte Schulter.

 

Anders als man es von Bauch-Beine-Po kennt, kommt als „Gemeinheit“ aber nicht nur das Liegen und Balancieren auf der Rolle ins Spiel, sondern soll man das Ganze, von der richtigen Atemtechnik begleitet, auch noch auf den Zehen des angewinkelten Beines machen. Das ist nicht nur super anstrengend, sondern hatte auch schnell ein heftigen Krampf zu Folge, dieser wiederum als Konsequenz von zu wenigen Dehnübungen, die Männer beim Fitness oder beim Joggen gerne vernachlässigen, was auf Dauer zu schmerzhaft verkürzten und verhärteten Oberschenkelmuskeln führen kann. „Gemein“ war schließlich auch, sich über die Bauchmuskeln auf der Rolle wieder aufzurollen und in die Sitzstellung zurückzukommen.

 

Wem das alles zu anstrengend klingt, sollte es einfach mal versuchen. Denn wie der Deutsche Pilates Verband (DPV) schreibt, eignet sich Pilates für alle, die bisher keinen oder wenig Sport gemacht haben, Rückenprobleme haben, fit und beweglich werden wollen, ihre Körperhaltung verbessern wollen, ein ausgewogenes Krafttraining suchen und eine sinnvolle Ergänzung zu ihrem bisherigen Hobbysport.

 

Im Unterschied zu Yoga hat Pilates keinen spirituellen Hintergrund. Der gleichnamige Erfinder hat in seinen Schriften zwar die „komplette Koordination von Körper, Geist und Seele“ als Basis für Zufriedenheit und Glück gefordert, darunter aber vor allem das Vermögen verstanden, sich während des Trainings vollständig auf den eigenen Körper sowie auf die korrekte und kontrollierte Ausführung einer Bewegung zu konzentrieren. Als grundliegender Unterschied zu Yoga sieht der DPV aber, wie bereits angesprochen, eigens entwickelte Geräte, „die durch Federwiderstände unentwegt Koordination und Stabilität fordern“.

 

Ganz wichtig ist, dabei sich und seinen Körper selbst zu erfahren und die Schulterblätter zum Beispiel bewusst in Richtung Körpermitte beziehungsweise Schambein zu bewegen, was auch die von vieler Schreibarbeit geschundene Schultermuskulatur entspannt. Die Brustwirbel dabei durchzustrecken, statt aus alter Gewohnheit in den Rundrücken zu verfallen, kann auch helfen, so manche Zentimeter wiederzugewinnen, die im Laufe des Lebens vielleicht verloren gegangen sind.

 

Auch wenn es manchmal so heißt, verleiht Pilates so wie andere Sportarten, Dehnübungen und Klimmzüge aber nicht wirklich mehr körperliche Größe, als da ist oder je da war. Aber man geht doch mit dem Gefühl nach Hause, etwas gewachsen zu sein. Der Muskelkater danach ist dann nur halb so schlimm. Und obwohl es danach vielleicht etwas Überwindung kostet, geht man dann doch gerne wieder in die Pilates-Schule, die jedes Mal mit anderen Übungen überrascht.

 

Übrigens: Für Pilates muss man nicht weit fahren oder gar um die halbe Welt fliegen. Bei größeren Fitness-Studios gehört es neben Yoga, Aerobic und Jazz-Tanz schon zum festen Repertoire. Und dann gibt es natürlich auch eigene Pilates-Studios wie das von Lola in Marquartstein zwischen Chiemsee und Reit im Winkel oder das von Gina Louisa Mathis in München. Die ehemalige Schweizer Eiskunstläuferin trainiert unter anderem auch Leistungssportler im Fußball und Eishockey, und sie gehört für Pilates auch zu dem Expertenrat von InspiredbySports.



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